Vladimir
Sorokin DER HIMMELBLAUE
SPECK
(Goluboje salo, 1999) DuMont, Köln 2000, 440 S., 48.00 DM
„Nin hao, mein
trockener Falter.“
Da wählt ein Autor
die hochmoderne Form des Briefromans und läßt einen lüsternen
Schwulen mit Anzüglichkeiten nur so gespickte Sehnsuchtsbezeugungen
an seinen Freund in der Ferne verfassen. Toller Start, ohne Zweifel. Zumal
die ein Zehntel des Textes ausmachenden chinesischen Wörter und AUSDRÜCKE
gleich hinten im Anhang nachschlagbar sind. Unmittelbar vor dem Anhang
mit den Neologismen, die ein weiteres Zehntel ausmachen.
Und darum
geht’s zunächst: Im chinesisch dominierten Rußland des Jahres
2068 wurden 7 Klassiker der russischen und sowjetischen Literatur geklont.
Da der bislang erreichte Übereinstimmungsgrad der Klone mit den Originalen
und auch überhaupt mit gesunden Menschen noch Steigerungsmöglichkeiten
offen läßt, sind die von Dostojewski-2, Pasternak-1 etc. erzeugten
Texte inhaltlich recht bizarr. Stilistisch jedoch hat Sorokin in den Kostproben,
die der Briefeschreiber seinem Freund übermittelt, die Ikonen der
russischen Literatur gut getroffen, und das ist es natürlich, was
den Witz ausmacht.
Die Literatur
ist den Militärs, unter deren Obhut das Projekt steht, freilich völlig
Wurscht. Es geht vielmehr um den Speck. Der himmelblaue Speck ist eine
Substanz mit geheimnisvollen Eigenschaften, die sich in den Klonen während
des Schaffensprozesses anreichert und die später mit einer Zeitmaschine
in das Moskau des Jahres 1954 einer Alternativwelt geschickt wird. Stalin
lebt, Hitler lebt. Sie und manch anderer der Mächtigen der Zeit werden
reichlich privat vorgeführt. Und so absurd die Verhältnisse in
der Alternativwelt auch sind, drängt sich dem Leser doch wiederholt
die Frage auf, ob die Realität nicht genauso absurd war.
Sorokin
wollte um jeden Preis provozieren, und zumindest in Rußland ist es
ihm auch gelungen. Kritiker drohen mit Staatsanwalt oder Irrenanstalt,
die Leser aber halten den 1999 erschienenen Roman noch immer in den Top
10 der meistgekauften Bücher. Seien Sie gewarnt: „Der himmelblaue
Speck“ ist ein drastischer Roman mit viel teils wenig appetitlichem Sex
und einer ordentlichen Prise Gewalt, in dem keine der handelnden Personen
gut weg kommt. Er ist – Pelewin einmal ausgenommen – sicherlich anders
als alles, was Sie sonst so lesen. Und er wird nach dem zähen Einstieg
noch richtig amüsant und sei volljährigen Lesern daher empfohlen.
Wärmstens.
Ivo Gloss, März 2001
Abbildungen:
Oben: russische Ausgabe
im Vlg. Ad Marginem, 2000
Unten: deutsche Ausgabe
im Vlg. DuMont, 2000