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Ivo Gloss

Das vernichtete Manuskript
oder
Der dritte Kir Bulytschow
 
 

Der Autor Kir Bulytschow

Kir Bulytschow, eigentlich Igor Moshejko (1934-2003), war es seit seinen ersten Veröffentlichungen gegen Ende der 1960er Jahre innerhalb von etwa anderthalb Jahrzehnten gelungen, in der Sowjetunion der wohl nach den Strugazkis beliebteste einheimische Science-Fiction-Autor zu werden. Und das als zu dieser Zeit nur nebenberuflicher Schriftsteller. Was unter dem Pseudonym Bulytschow erschien, das konnte einerseits sehr präzise die Erwartungen einer jungen Zielgruppe treffende Kinderliteratur sein oder aber andererseits Science Fiction für Erwachsene.
 
 

1976
Enthält auch Guslar-Geschichten
1980
Guslar-Text in Buchlänge
1982
Heft mit 3 Guslar-Geschichten

 

Das Angebot für Erwachsene bestand zunächst einmal insbesondere aus den heiteren Geschichten um die Einwohner des fiktiven Provinzstädtchens Guslar, Verzeihung: Groß Guslar. Ein russischer SF-Kritiker bemerkte einmal, andere schrieben über »Menschen wie Götter« (gemeint ist die Space Opera von Sergej Snegow), Bulytschow hingegen über »Ganz gewöhnliche Leute« (so der Titel seines zweiten Erzählungsbandes für Erwachsene). Dies wird im Guslar-Zyklus ganz besonders augenfällig. Bulytschow bemühte sich meist nicht eben sonderlich darum, dem Leser die Technik und Wissenschaft in seiner SF plausibel zu machen. Warum auch entweder hatten ältere Kollegen das längst getan, oder aber es wäre einfach wenig erfolgversprechend gewesen. Bulytschows Stärken waren das Erzählen der Geschichte und der Blick für die Details der Charaktere und Schauplätze. Bulytschows Geschichten ob nun in Guslar oder andernorts angesiedelt beginnen selten mit einem Knall, sondern eher mit einer glaubwürdig beschriebenen Alltagssituation, die sich dann durch den Einbruch des Phantastischen zuspitzt.
Für die jungen Leser war Bulytschow wohl so eine Art guter Märchenonkel und für die älteren SF-Freunde in der ersten Zeit vor allem ein Verfasser harmloser heiterer und optimistischer Geschichten, der gelegentlich auch mal die abenteuerliche Richtung des Genres bediente. Jedenfalls niemand, um den es Skandale zum Beispiel wegen illegal im Ausland publizierter kritischer Texte gegeben hätte.
 
 
 

2023
2023
2023
»Goldfische eingetroffen«, »Eine hochverehrte Mikrobe« und »Das Leben für einen Triceratops« drei russische herrlich skurril gestaltete dicke Bände mit Guslar-Texten.
 
 

Glasnost und Perestroika

Dann jedoch brach die zweite Hälfte der 1980er Jahre an und ein dritter, kritischerer, satirischerer, politischerer Bulytschow wurde offenbar. Die neue Offenheit in der sowjetischen Gesellschaft der Gorbatschow-Zeit und der nachsowjetischen Zeit spiegelte sich in Bulytschows Schaffen deutlich wider. So halten Glasnost und Perestroika auch in Guslar Einzug. Es existiert eine Bürgerbewegung, die der Guslarer Obrigkeit in Sachen Denkmal- und Umweltschutz auf die Finger klopft, und eine Reise mit der Zeitmaschine offenbart in der Erzählung »Vergangenheit« (1989), dass der alte Loshkin als junger Mann im Jahr 1948 unter den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen durchaus das Zeug zum Schurken hatte, der um ein Haar seine zukünftige Frau denunziert und ins Lager gebracht hätte. Der Gestus der Guslar-Geschichten wandelt sich vom harmlosen Humor zur Satire. Düsterere Töne tauchen auf. Die längere Erzählung »Die Senkrechtwelt« (1989) beginnt mit einem Blick auf die durchweg erfreulichen Veränderungen, die in Guslar unter dem in der zweiten Hälfte der 80er Jahre an die Macht gekommenen neuen demokratischen und bürgernahen Stadtoberhaupt Beloselski vor sich gegangen sind. In jener Parallelwelt aber, in die sich Bulytschows Lieblings-Guslarer Korneli Udalow begibt, hat Beloselskis Vorgänger Pupykin seine Macht nicht nur behauptet, sondern auch mit diktatorischen Mitteln zementiert. Udalow findet sich in einer Welt der Unterdrückung und Einschüchterung, der Günstlings- und Mangelwirtschaft, der rücksichtslosen Umweltverschmutzung und eines grotesken Personenkultes wieder.
Auch die außerhalb Guslars angesiedelten Texte Bulytschows wurden nun zunehmend kritischer und düsterer. Das Tagesgeschehen spiegelt sich in den Erzählungen wider, die dementsprechend oft auch zeitnah in Zeitungen erstveröffentlicht werden, und die nun ansprechbaren dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte werden thematisiert oder zumindest am Rande mit einbezogen.
 
 
 

2020
1989
1992
Links: Deutscher Auswahlband mit Texten auch aus den Büchern rechts davon
Mitte: Erstausgabe des Katastrophen-Romans »Der Tod im Stockwerk tiefer«
Rechts: Erzählungsband »Das Treffen der Tyrannen«. Das Titelbild illustriert die in der Anthologie »Die säumige Zeitmaschine« deutsch vorliegende Erzählung »Das Treffen der Tyrannen bei Rowno«
 
 

»Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes«

Der von mir zusammengestellte deutsche Auswahlband »Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes« (2020) repräsentiert mit zwischen 1986 und 1991 entstandenen Texten genau die Phase, in der der »dritte Bulytschow« das Licht der Öffentlichkeit zu erblicken begann. Dabei enthält das Buch ausschließlich zumindest relativ kurz vor der Veröffentlichung entstandene Texte, die zudem alle für mich zum Besten gehören, das der Autor geschrieben hat.

Nur die 1991 erstveröffentlichte witzige Erzählung »Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes« mit der respektlosen Darstellung des greisen Breshnew und seiner Umgebung ist bereits 1986 entstanden. Es wird hier davon ausgegangen, dass 1982 Außerirdische die Bürger eines jeden Landes dazu aufforderten, durch gedankliche Abstimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entscheiden, welche verstorbene Person bei ihnen jeweils wieder gesund ins Leben zurückgeholt werden soll. Bulytschow bietet dem Leser die Möglichkeit, dabei zu sein, als damals in der sowjetischen Führungsriege darüber diskutiert wurde, auf wen das Sowjetvolk eingeschworen werden sollte. Der Kandidat jedenfalls, dessen Name bei der Beratung naturgemäß als erstes fällt, erscheint dem Gremium nach gründlicherer Überlegung als nicht optimal. Auch den weiteren Verlauf der Ereignisse nach der Entscheidungsfindung darf der Leser mitverfolgen, und diese Ereignisse sind nicht trivial. Denn durch das von den sowjetischen Gepflogenheiten doch deutlich abweichende Wahlverfahren wird die Partei- und Staatsführung durchaus vor gewisse Herausforderungen gestellt.

Der im Band enthaltene Roman »Der Tod im Stockwerk tiefer« (1989) ist eine Momentaufnahme der gesellschaftlichen Verhältnisse des Jahres 1987, in dem die bislang uneingeschränkte Macht der Partei bereits etwas zu wanken begonnen hatte. Es geht um die Ignoranz der Verantwortlichen gegenüber den Warnungen der Wissenschaft vor einer sich abzeichnenden hausgemachten Katastrophe, die über eine große, aber fernab von Moskau liegende sowjetische Stadt hereinzubrechen droht. Es geht um die Überlebens- und Rettungsbemühungen während der Katastrophe und darum, dass sich unter den Überlebenden recht bald durchaus unterschiedliche Ansichten darüber offenbaren, was unter »Schadensbegrenzung« und »Aufräumarbeiten« zu verstehen ist. 

Die schwarzhumorige Geschichte »Der alte Iwanow« (1989) hingegen ist eine Reise durch die gesamte Sowjetzeit bis hin in die vom Zeitpunkt des Entstehens aus gesehen nahe Zukunft anhand der Lebensbeschreibung der Titelfigur. Iwanow ist ein Problemlöser mit hundertprozentiger Erfolgsrate. Stets reicht die Zusicherung einer Erfolgsprämie, die keineswegs sonderlich groß zu sein braucht, völlig aus, um ihn ohne Rücksicht auf Verluste die ihm gestellte Aufgabe lösen zu lassen. In dieser herrlich lakonisch geschriebenen Erzählung führt Bulytschow dem Leser vor Augen, wie dieser Iwanow beziehungsweise diese Einstellung durch die gesamte Geschichte der Sowjetunion hindurch eine stetig zunehmende Rolle gespielt und letztlich im Verborgenen sogar Bedeutung für das Schicksal der gesamten Welt erlangt hat. Eine Erzählung, die man, wie ich finde, mit nicht nachlassendem Vergnügen durchaus mehrmals lesen kann, weil einfach jeder Satz sitzt.

Ebenfalls satirischer Natur ist die Erzählung »Der freie Tyrann« (1988). Sie gehört zum Guslar-Zyklus. Allerdings hat Kir Bulytschow seinem Guslarer Korneli Udalow Reisefreiheit gewährt. Der kommt mit seinem Raumschiff nicht so ganz zurecht, muss auf einem Planeten einen ungeplanten Zwischenstopp einlegen und landet ausgerechnet in einem Gefangenenlager. Später wird sich zeigen, dass der Zufall so groß gar nicht war, denn das Lager ist riesig. Und es beinhaltet Menschen aller Professionen, so dass es sich in jeder Beziehung selbst versorgt. Sogar die Bewachung erfolgt durch Insassen. Der Reisende wird umgehend den örtlichen Gepflogenheiten entsprechend neu eingekleidet und mit einer Nummer versehen. Er bekommt aber auch die Möglichkeit, außerhalb des Lagers den Herrscher des Planeten zu treffen und sich so ein Bild von den verblüffenden Verhältnissen zu machen. Eine Geschichte, die das Zeug zum Lesebuchtext hat.
 
 
 

 
2024
Erzählungen
DVD-Cover für den 1993 nach
»Oktoberrevolution 1967«
gedrehten Fernsehfilm »Der Fehlschlag«
 

 

»Oktoberrevolution 1967«

Dass veränderte Veröffentlichungsmöglichkeiten und Veränderungen der sonstigen gesellschaftlichen Verhältnisse Auswirkungen auf das Schaffen eines Schriftstellers haben, das ist ja nicht weiter verwunderlich. Recht erstaunt war ich jedoch, als peu a peu immer mehr alte, bislang unveröffentlichte, schon in der Breshnew-Zeit entstandene Erzählungen Bulytschows erschienen, die bereits in aller Klarheit den »dritten Bulytschow« zeigten. Der Autor hatte sich damals die Mühe gemacht, sie für sich allein oder zumindest nur für den allerengsten Freundeskreis zu verfassen. In den falschen Händen hätten sie die schriftstellerische Karriere Bulytschows abrupt beenden können.

Derartige Texte bilden einen Teil des ebenfalls von mir zusammengestellten Bulytschow-Bandes »Oktoberrevolution 1967« (2024) mit Erzählungen aus den 1960er und 1970er Jahren. Recht spektakulär ist die Titelnovelle aus dem Jahr 1968 schon wegen ihres Schicksals. Der Autor hatte sie in Erwartung einer Wohnungsdurchsuchung nämlich eigentlich vernichtet und damit aus der Welt gewähnt. Doch wohl 1990, als der Text schon keine Gefahr mehr darstellte, war im Nachlass eines Freundes ein Durchschlag oder eine Abschrift aufgetaucht.

Die Novelle geht von der Prämisse aus, die Partei hätte anlässlich des 50. Jahrestages die revolutionären Ereignisse von 1917 detailliert nachspielen und per Fernsehen in den Rest der UdSSR und ins daran interessierte Ausland übertragen lassen. Höhepunkt ist natürlich die Erstürmung des Winterpalais in Lenin- bzw. nun vorübergehend wieder Petrograd zum Zwecke der Absetzung der dort residierenden Provisorischen Regierung. Die Verteidiger des Winterpalais werden von den Mitarbeitern des in diesem Gebäudekomplex ansässigen Kunstmuseums Ermitage gespielt. Bulytschow zeigt, dass diese wie auch die vielen anderen Laienschauspieler in diesem riesigen Quasi-Rollenspiel nicht allein von der ihnen vorgeschriebenen Rolle geleitet werden, sondern auch von ihrem jeweiligen Charakter und von der Rolle, die sie im realen Leben spielen. Auf das Handeln der Museumsmitarbeiter zum Beispiel hat das professionelle Verantwortungsbewusstsein, die Sicherheit der ihnen anvertrauten Kunstschätze zu gewährleisten, großen Einfluss. Da auch an vielen anderen Stellen Sand ins Getriebe der riesigen Inszenierung gerät, tauchen beim Leser allmählich Zweifel daran auf, ob es der Generation der Enkel der je nach Sichtweise Revolutionäre oder Putschisten wohl noch gelingen wird, zumindest im Spiel das nachzuvollziehen, was einigen ihrer Großeltern im realen Leben gelungen war. Jedenfalls nimmt das Geschehen einen aberwitzigen Verlauf, und wem die Prämisse noch nicht ausreicht, um die Novelle zur SF zu zählen, der muss sie eben bis zum Schluss lesen.
 
 

Die russische Low-Budget-Verfilmung von 1993 der Novelle »Oktoberrevolution 1967« in der Originalfassung. 
Auf dem Startbild die Museumsmitarbeiterin Sosja.




Die Geschichte erlebte mehrere Inkarnationen. 1993 erfolgte die Erstveröffentlichung der Novelle in einer Zeitschrift. Noch davor hatte ein Regisseur das erhalten gebliebene Manuskriptexemplar in die Hände bekommen und um die Erlaubnis zur Verfilmung für das Fernsehen gebeten. Bulytschow schrieb dazu: »Der Film wurde im Sommer gedreht, praktisch ohne Geld, allein mit Enthusiasmus. Letzterer hatte freilich nicht jeden erfasst, denn einige eingeladene Schauspieler hatten abgesagt und das damit begründet, dass, wenn die Kommunisten an die Macht zurückkehren, sie mich dafür zur Verantwortung ziehen werden.« Noch 1993 wurde der Film erstmals gesendet. Weitere Ausstrahlungen erfolgten in mehreren Folgejahren jeweils am 7. November. Diese Verfilmung firmiert als Komödie. Wo sich in der Novelle blutige Auseinandersetzungen abspielen, werden dem Zuschauer im Film lediglich marschierende Stiefel gezeigt. Und schließlich erschien 1995 Bulytschows Umsetzung der Novelle in ein Theaterstück im Druck. Das Stück trägt die Bezeichnung »Tragödie in 12 Aufzügen« und unterscheidet sich meines Erachtens nicht so sehr von der als »Märchenerzählung« untertitelten Novelle, wie der nunmehrige Ausweis als Tragödie vermuten lässt. 

»Oktoberrevolution 1967« zeigt das Nachspielen eines historischen Ereignisses. Ein solches Nachspielen ist nicht ungewöhnlich und erfolgt oft als Film oder Theaterstück oder aber als möglichst authentisches, nicht jedoch künstlerisches Nachstellen (Reenactment). Die Geschehnisse um die Absetzung der Provisorischen Regierung werden unter anderem auch in Sergej
Eisensteins Stummfilm »Oktober. Zehn Tage, die die Welt erschütterten« (russisch mit englischen Untertiteln bei YouTube) dargestellt, der am 10. Jahrestag 1927 uraufgeführt werden sollte. Gedreht am Originalschauplatz, etwas stürmischer, als die historische Vorlage wohl gewesen war, und, wie es heißt, auch unter Verursachung größeren Schadens als 1917. Das Medium Film bietet in autoritären oder totalitären Staaten den Machthabern die Möglichkeit, ihnen nicht genehme Werke gar nicht erst zur Veröffentlichung kommen zu lassen oder zumindest ihnen geboten erscheinende Änderungen zu veranlassen. Letzteres Schicksal ereilte auch den Film »Oktober« kurz vor der geplanten Premiere wies Stalin darauf hin, dass einige der dargestellten Personen, allen voran Trotzki, der eigentliche Organisator des Umsturzes, aus dem Werk zu entfernen seien. 
 
 
 

Kurzer Stummfilm »Die Einnahme des Winterpalais« von 1920. 
Am Schluss folgen noch ein paar Bilder von einer anderen Veranstaltung.
 
 

Massenspektakel 1920

Bereits zum 3. Jahrestag der Oktoberrevolution hatte 1920 im damaligen Petrograd auf dem Platz vor dem Winterpalais etwas stattgefunden, was man heute wohl Mega-Theater-Event nennen würde. Das Stück hieß »Die Einnahme des Winterpalais«. Beteiligt waren etwa zehntausend Personen, darunter solche, die auch 1917 dabei gewesen waren, an die hundert leistungsstarke Scheinwerfer, eine Artilleriebatterie, Panzerwagen und der Panzerkreuzer »Aurora«.

Olga Burenina-Petrowa und Marina Ochrimowskaja beschreiben die Aufführung auf der Basis des überlieferten Materials wie folgt: »Vor dem Generalstabsgebäude hatte man zwei hohe Bühnen errichtet und diese durch eine Brücke verbunden. Links das Revolutionskomitee. Rechts die Provisorische Regierung und Kerenski (auf den Bildern der erhalten gebliebenen Chronik sind Ereignisse ab dem Juni 1917 zu sehen). Im ständigen Wechsel zwischen den Podesten wurde in hingebungsvollen Pantomimen der Kampf von Arbeit und Kapital dargestellt. Kerenski sprach, die Regierung tagte, spekulierende Banker jubelten oder gerieten in Panik, je nach dem Kurs der Kerenka, wie man im Volksmund die Banknoten jener Zeit nannte. Die Proletarier riefen: Lenin, Lenin! Betrogene Kriegsopfer und Verteidiger der Weißen wechselten zu den Roten. Provisorische flüchteten mit dem Auto ins Winterpalais. Auf Lastwagen trafen bewaffnete Arbeiter ein. Kurzer Kampf, Flucht der Verteidiger, der Palast ist eingenommen, Kerenski verschwindet in Frauenkleidern. Hurra! der Sieger. Gewehrschüsse, Explosionen, feierlicher Salut, die Internationale und ein großes scharlachrotes Banner im Licht der Scheinwerfer ... Glaubt man den Chroniken, so hat die Pantomime auf dem Schlossplatz in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 1920 hunderttausend Zuschauer angelockt. Auf dem Kulminationspunkt waren die derart aufgepeitscht, dass sie sich dem Sturm der Schauspieler auf das Winterpalais anschlossen. Die Mauer, die Theater und Realität voneinander getrennt hatte, war eingestürzt.« (1)
 
 

Links retuschiert als angebliches Originalfoto der Ereignisse von 1917. Rechts das unretuschierte Original als Foto einer Probe der Inszenierung von 1920. Auf beiden Bildern jedoch prangt über dem rechten Eingang ein vermutlich roter Stern.
 
 

Das retuschierte Foto

Das Massenspektakel von 1920 hat übrigens nicht nur Eindruck bei den damaligen Zuschauern hinterlassen, auch Nachgeborene, die nie von ihm gehört haben mögen, können mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit in seinen Einfluss geraten sein, sofern sie sich einmal mit einem Sachtext über
den Sturm auf das Winterpalais oder auch nur allgemein über die Oktoberrevolution beschäftigt haben. Dort wird nämlich seit 1922 nicht selten ein Foto als Illustration benutzt, das zeigt, wie auf dem Platz vor dem Palais aus dem Bildvordergrund ein Strom Bewaffneter hinter einem LKW her rechts am Sockel der Alexandersäule vorbei auf das Winterpalais im Hintergrund
zuläuft. Was zu Sowjetzeit stets als Aufnahme des Ereignisses von 1917 präsentiert wurde, obwohl es erkennbar bei Tageslicht aufgenommen und nichts von etwaigen Verteidigern zu sehen ist, ist jedoch tatsächlich die retuschierte Variante eines Fotos aus dem Jahr 1920, das eine Probe zum Jubiläumsspektakel zeigt. Auf dem Original steht unmittelbar neben der Alexandersäule ein für Regiezwecke errichteter Holzturm, und am rechten
Bildrand sind Zuschauer zu sehen. (2)
 
 
 

5-Rubel-Goldmünze aus dem Ausgabezeitraum 1897-1911
 
 

Die Numismatiker-Sache

Das Nachstellen in Kir Bulytschows Novelle dürfte von den Planern als exaktes Nachspielen dessen, was die sowjetische Geschichtsschreibung als authentisch festgelegt hatte, konzipiert gewesen sein. Doch die Generation der Enkel scheitert nicht nur am bloßen Reenactment der Tat der Großväter, sondern
setzt das Spiel im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten so gründlich in den Sand, dass das gefeierte Ereignis, die gesamte Oktoberrevolution und die daraus resultierende Macht der Kommunistischen Partei, dadurch in der literarischen Realität zurückgenommen wird. Durchaus verständlich, dass der Autor dieses Manuskript nicht mehr in der Wohnung haben wollte, als sich das Bevorstehen einer Durchsuchung abzeichnete. Das übrigens nicht aufgrund dissidentischer Aktivitäten, sondern im Zusammenhang mit dem damaligen Hobby des Autors. Ob es nun als persönlicher Beitrag zu Ehren des bevorstehenden 100. Geburtstages von Wladimir Iljitsch Lenin oder doch vielleicht als Möglichkeit der beruflichen Profilierung gedacht war, jedenfalls war Ende 1969 ein Staatsanwalt auf den Trichter gekommen, dass ja eigentlich viele Münzsammler kriminell sein dürften und auf dieser Grundlage um ihre edelmetallhaltigen Sammlungen gebracht werden könnten. Verboten war nämlich jeder Handel mit Edelmetallen oder aus ihnen gefertigten Erzeugnissen, sofern er nicht unter Beteiligung der Staatsbank erfolgte. Diese Aktion dauerte mehrere Jahre an. Kir Bulytschow sammelte zu jener Zeit zwar nur bronzene Gedenkmedaillen aus der Zarenzeit, aber da er in der Numismatikerszene ein bekannter Mann war, war er sich ziemlich sicher, dass sich die Staatsmacht auch bei ihm einmal umsehen wollen würde. Was dann aber doch nicht geschah.
 
 

Detail der 1998 in Moskau aufgestellten Komposition »Den Opfern des totalitären Regimes« des Bildhauers Jewgeni Tschubarow.
 
 

»Von der Angst«

»Von der Angst« (verfasst 1971, erstveröffentlicht 1992) ist die einzige Geschichte des Bandes »Oktoberrevolution 1967«, die vom Zeitpunkt der Entstehung aus gesehen erkennbar in der Zukunft angesiedelt ist, nämlich im Jahr 1988. Es geht in der Erzählung darum, dass im Jahr 1938 eine Gruppe von Wissenschaftlern insgeheim eine Zeitmaschine gebaut hat, um sich und ihre Familien vor der »Großen Säuberung« in Sicherheit zu bringen. Die in der Erzählung für 1988 dargestellte offizielle Einstellung zur Person Stalins dürfte ungefähr der tatsächlichen vom Anfang der 1970er Jahre entsprechen. Nach Chruschtschows Geheimrede »Über den Personenkult und seine Folgen« 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU und dem 1961 erfolgten Abbau der Stalin-Denkmäler und der Entfernung von Stalins Namen aus der Benennung von Städten, Betrieben etc. wurde die Kritik am Stalinismus unter Breshnew ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wieder relativiert. Die offizielle Sprachregelung sah 1974 wie folgt aus: »Stalins Wirken hatte neben der positiven auch eine negative Seite. Während er höchste Positionen in Partei und Staat innehatte, ließ er grobe Verletzungen der Leninschen Prinzipien der
kollektiven Führung und der Normen des Parteilebens zu, die Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit, unbegründete Massenrepressionen gegen angesehene staatliche, politische und militärische Führungspersönlichkeiten der Sowjetunion und gegen andere ehrliche Sowjetmenschen.« (3) Zahlen, die
das gesamte Ausmaß der Verbrechen belegten, und konkrete persönliche Schicksale wurden jedoch als eher weniger zur Veröffentlichung geeignet angesehen. Im realen Jahr 1988 hat sich demgegenüber viel verändert. Michail Gorbatschow ist Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, und eine seiner Maximen lautete: Offenheit. Zudem bilden sich nun Menschenrechtsorganisationen wie Memorial. Ein Tätigkeitsschwerpunkt
von Memorial ist die Erforschung von politischen Repressionen im 20. Jahrhundert und die Erinnerung daran, um der Entstehung neuer totalitärer Systeme entgegenzuwirken. Doch seit den 2010er Jahren befand sich die Organisation Memorial mit ihren Bemühungen in diametralem Gegensatz zu der verklärenden Darstellung Stalins in den staatlich gelenkten russischen
Massenmedien als dem Repräsentanten einer Zeit, in der Russland bzw. die Sowjetunion noch Großmacht war. Während in der Sowjetunion um 1987 meines Wissens nur ein einziges Stalin-Denkmal im öffentlichen Raum verblieben war, nämlich in seiner georgischen Geburtsstadt, sind in Russland einschließlich der von Russland annektierten Krim seit 2013 mindestens 70 Stalin-Denkmäler neu errichtet worden. Im Herbst 2017 hatten 46 Prozent der russischen Jugendlichen nie etwas von den politischen Repressionen der Stalinzeit gehört. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 sahen 70 Prozent der Russen die Rolle Stalins für ihr Land positiv, so der deutsche Wikipedia-Artikel zu Stalin. Die Menschenrechtsorganisation Memorial hingegen wurde 2021 auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit allen ihren in Russland aktiven Einrichtungen gerichtlich aufgelöst.
 
 

Bild zum Download-Angebot
des Hörbuchs »Das Mammut«
 
 

»Das Mammut«

Dies ist eine weitere von Bulytschows »vor der Zeit« geschriebenen Erzählungen. Verfasst wurde sie 1976, erstmals erschienen ist sie 1992. Deutsch liegt sie bislang nicht vor. Ein Naturforscher hat sich aufgemacht, in der Taiga nach den gefrosteten Überresten eines Exemplars jener ausgestorbenen Elefantenart zu suchen, und stößt stattdessen auf ein von der Außenwelt vergessenes, aber noch in Betrieb befindliches Lager aus dem längst vollständig aufgelöst geglaubten Gulag-System. Vom Tode Stalins und Berijas weiß man hier nach fast zweieinhalb Jahrzehnten noch immer nicht. Der bisherige Forscher und nunmehrige Neu-Häftling kommt gerade richtig, um die feierliche Vollendung eines Großprojektes mitzuerleben, das die Lagerinsassen in den letzten mehr als dreißig Jahren zum Ruhme Stalins und des Sowjetlandes verwirklicht haben. Es handelt sich um eine Eisenbahntrasse. Die beschreibt einen Ringkurs und hat offenbar keine Haltepunkte. Auch mit Eisen hat sie nicht sonderlich viel zu tun, denn Schienen standen nicht zur Verfügung. Aber immerhin das Gleisbett ist geschaffen und die Schwellen sind verlegt und vor allem ein Foto wird aufgenommen, das die am Begegnungspunkt der beiden Bautrupps einander jubelnd in die Arme fallenden Gleisbauer vor dem Hintergrund einer auf eine Plane gemalten Lokomotive für die Ewigkeit festhält.
 
 

Kir Bulytschow (Igor Moshejko) auf
einem von seiner Frau Kira Soschinskaja
geschaffenen Porträtbild.
 
 

Abschaum

Jene vielen nachsowjetischen Erzählungen und Romane Bulytschows, in denen er sich als Satiriker zeigt oder einfach nur die Geschichte und Gegenwart (letzteres vor allem in den Guslar-Erzählungen) seines Landes ungeschönt darstellt, kamen nicht nur bei vielen Lesern in seiner Heimat schlechter an als die früheren Texte, sondern riefen zuweilen sogar persönliche Anfeindungen hervor. Die folgenden ungekürzten Kommentare aus dem Jahr 2022 unter einem den Autor würdigenden Artikel (4) im russischen Internet veranschaulichen dies:

Kommentator 1: »Ein einziger Verrat löscht alle bisherigen Verdienste aus. Was er auch für ein Schriftsteller gewesen sein mag, aber er war ein Russenhasser, also Abschaum.«
Kommentator 2: »Ein Russenhasser?«
Kommentator 1: »Leider hat er, wie auch die Strugazkis, mit dem Zusammenbruch des Landes begonnen, unerträglichen russophoben Unsinn abzusondern.«
Kommentator 3: »Nicht doch ... Seine letzten Arbeiten sind nur einfach traurig ... Sie sind schwer zu lesen ... aber ebenfalls gut, meisterhaft geschrieben!«

»Russophob« ist ein Begriff, der mir in den letzten Jahren mit zunehmender Häufigkeit von Putin selbst und von sich in seinem Sinne äußernden Personen verwendet zu werden scheint, um vorzugsweise Nichtrussen zu diskreditieren, die die Politik des russischen Präsidenten kritisiert haben, ohne dass man dabei in eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten einsteigen müsste. Von Absicht und Wirkung her entspricht der Vorwurf der »Russophobie« in Deutschland dem, ein »Volksverräter« (Unwort des Jahres 2016) zu sein. Mit dem Unterschied vielleicht, dass »Russophobie« zumindest solide wissenschaftlich klingt, während ich bei jemandem, dem es nicht zu peinlich ist, einen anderen durch den Begriff »Volksverräter« verunglimpfen zu wollen, spontan erst einmal von einem schlichten Gemüt ausgehe.
 
 
 

Erzählungen. 1981
1986. Teil von »Überlebende«. Illustriert
1995. Lesetipp

 

Weitere deutschsprachige Ausgaben

Abschließend soll in Form der obigen drei Abbildungen noch auf weitere deutschsprachige SF-Bücher von Kir Bulytschow hingewiesen und  insbesondere der Roman »Überlebende« (fertiggestellt 1984, Erstveröffentlichung 1988) aus dem Zyklus um den Weltraumbiologen Pawlysch zur Lektüre empfohlen werden. Nach dem Stand von 2023 hat dieser Planetenroman bisher mindestens 24 russische Buchausgaben in diversen Verlagen erlebt und mindestens 10 Ausgaben als Übersetzung, darunter auch 2 in den USA.
 
 

(1) Olga Burenina-Petrowa und Marina Ochrimowskaja: Wsjatije Simnego dworza pokasali w Zuriche
(2) Mehr dazu in: Sylvia Sasse: «Sturm auf den Winterpalast» 1922: Warum ein Bild retuschiert wurde
(3) Anmerkung zu Stalin im Personenregister der russischen
Lenin-Gesamtausgabe. Band 35. 1974, S. 540. Übersetzt nach der Zitierung im Eintrag zu Stalin in der russischen Wikipedia, Abschnitt "Öffentliche Meinung"
(4) fanfanews: Kir Bulytschow - tschelowek, proshiwschi tri shisni
 
 
 
 

Seite zum Buch 
»Oktoberrevolution 1967«
Seite zum Buch 
»Der einheitliche Wille ...«

 

Alle deutschen Bücher von Kir Bulytschow mit Cover-Bildern
Cover einer russischen Bulytschow-Werkausgabe


 


Die Erik-Simon-SF-Werkausgabe in Einzelausgaben bei
Memoranda


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Stand 20.04.2024. Copyright (C) 2024 by Ivo Gloss